Der Wahn der Unschuld

Aus ‘Patho­so­phie’ von Vik­tor von Weiz­äcker, 1956

Es wäre nichts Auf­re­gen­des dabei, wenn jemand sich unschul­dig am Wet­ter, am Lauf der Pla­ne­ten und am Her­gang che­mi­scher Reak­tio­nen fühlt. Stellt sich aber dann her­aus, dass die Sta­tis­tik eine Häu­fung der Ver­bre­chen bei bestimm­ter Wet­ter­la­ge und zu gewis­sen Jah­res­zei­ten nach­weist, dass fer­ner das Zustan­de­kom­men von sol­chen Unta­ten wie Mord etwas mit dem Ver­hal­ten einer Gesell­schaft zu tun hat, von der ich ein Mit­glied bin, dann rückt ein sol­ches Ereig­nis mei­ner Ver­ant­wor­tung schon näher. Zwar habe ich das Wet­ter und die Jah­res­zei­ten nicht gemacht, aber mein Ver­hal­ten zu bei­den, in bei­den ist auch ein beson­de­res und mei­nes. Jetzt erken­ne ich, das alles mit allem zusam­men­hängt, und wenn ich das Wet­ter auch nicht mache, so mache ich doch dad mit, was das Wet­ter für die Gesell­schaft, damit den Mör­der bedeu­tet, und die­se Bedeu­tung ist eine Rea­li­tät, die man nicht nur meteo­ro­lo­gisch und nicht nur psy­cho­lo­gisch neh­men kann: bei­des ist uner­läss­lich. Mei­ne Unschuld am Wet­ter und am Mord ist bei die­ser sub­ti­len Über­le­gung nicht auf­recht­zu­er­hal­ten, und doch wäh­ne ich, an bei­den unschul­dig zu sein. Wir bezeich­nen dies als Unschuld­wahn, behaup­ten, er kon­sti­tu­ie­re das nor­ma­le mensch­li­che Dasein und gehö­re eben­falls zu den Arten des nega­ti­ven Wahn­es und zu den Als-ob-Verhaltensweisen.


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