Ich stehe vor dem Kühlschrank, die Hand schon am Griff. Ein Teil von mir ist sicher, jetzt gibt es gleich was zu Essen. Ein Stück Käse, ein Bissen von irgendwas. Egal. Und gleichzeitig gibt es einen anderen Teil, der der Überzeugung ist, dass ich jetzt nichts essen sollte, dass ich den Kühlschrank zu lassen sollte, dass mir das essen nicht gut tut. Daraus entwickelte ein interner Konflikt, den ich nicht wirklich auflösen konnte. Fast immer habe ich dann den Kühlschrank aufgemacht. Habe das Stück Käse rausgenommen und in den Mund gesteckt. Und bin dann wieder gegangen. Und dieses innere Spiel hat sich zigfach wiederholt. Immer und immer wieder. Gut eingeübt. Beide Stimmen, immer das gleiche Handeln.
Und: immer das gleiche innere Gegeneinander. Der Konflikt. Die „vernünftige“ Stimme, die aber eine verletzende, abwertende Stimme war: Du bist schon zu dick, Du brauchst jetzt nichts zu essen, jetzt ist doch gar keine Essenszeit … Und die Rebellion dagegen, das pubertiernde “Ich will aber” und “Ich bin schon groß, ich entscheide für mich selbst und ich mache das jetzt.” Aus dem Konflikt konnte ich mich nicht befreien. Es gab nur das oder dies, es gab keine Zwischenposition, es gab auch keine tiefere Reflexion. Und natürlich habe ich mich über mich selbst geärgert. Und natürlich wollte ich es mal um mal anders entscheiden. Und natürlich war ich frustriert, dass ich immer und immer wieder was in meinen Mund gesteckt habe. Um mich zu beruhigen. Um mich abzulenken. Um meine Gefühle steuern zu können. Um mich innerlich zu beschäftigen. Wie konnte es denn sein, dass ich genau wusste, was ich eigentlich wollte, und trotzdem es nie, nie, nie schaffte?
Irgendwann – nach ein paar Jahren Therapie und sehr viel Arbeit an mir selbst – hat sich etwas zu verändern begonnen. Konnte ich freundlicher zu mir sein. Habe ich neue Fragen gestellt. Und nicht zuletzt: habe ich mir erlaubt, Bedürfnisse zu haben, auch wenn ich sie nicht begründen oder intellektuell verteidigen konnte. Eine dieser Fragen war: Warum gehe ich überhaupt zum Kühlschrank? Was treibt mich da immer und immer wieder hin? Was ist der Teil von mir, der da zum Käse greift, auch wenn er dafür so beschimpft wird? Und wie kann ich mit dieser Selbstbeschimpfung aufhören? (Die geneigte Leserin wird es schon längst vermutet haben: Selbstdisziplin ist an dieser Stelle nicht eine unmittelbare Stärke von mir.) Also habe ich es zugelassen. Fand ich es nicht so schlimm. Habe ich mir erlaubt, das zu tun. Habe vor allem diese harten, kompromisslosen Wertungen bleiben gelassen. Und dadurch, dass der Konflikt in mir weggefallen ist, haben sich schon mal Dinge geändert.
Die erste Überraschung: ich bin nicht öfter zum Kühlschrank gegangen, auch wenn ich mich dafür nicht ausgeschimpft habe. Es gab eine Phase, da gab es, von außen gesehen, sicher keine Unterschiede. Ich bin weiter immer wieder in die Küche, habe dort verstohlen etwas in mich gestopft, und bin wieder zurück, woher auch immer ich gerade gekommen bin.
Und dann, nach einiger Zeit, begannen sich Dinge zu verändern. Bin ich nicht mehr so oft da hin. Musste ich mir nicht mehr so oft was in den Mund stecken – denn ich hatte mir auch auf andere Arten erlaubt, Bedürfnisse zu haben und besser mit mir umzugehen.
Mein nächster Schritt: ich habe mir erlaubt, zu denken, dass dieses „zum Kühlschrank gehen“ ein Ritual ist, das eine Funktion in meinem Leben hat. Ich habe es so viele Jahre praktiziert, und es hatte eine Wirkung auf mich: Es hat mich beruhigt. Es hat mich abgelenkt. Es hat mir erlaubt, aus einem subjektiv sehr anstrengenden Moment hinauszugehen und eine kleine Pause zu haben. Es war sehr gut eingeübt, sehr gut gelernt. Warum sollte ich das einfach aufgeben? Ich habe mir eingestanden, dass es total schwierig ist, das einfach aufzuhalten, mit weil es eben in Situationen passiert, bei denen ich schon herausgefordert bin. Wo ich nicht einfach sagen kann: Okay, wie möchte ich mich jetzt entscheiden, was für Optionen habe ich gerade in diesem Moment? Sondern, wo eine Art Autopilot übernimmt, mich in die Küche bringt, und mich vor den Kühlschrank stellt. Also: wie gehe ich damit um?
Ich habe jetzt Kirschtomaten im Kühlschrank. Und in der Regel was zu trinken. Ich stecke mir jetzt zwei Tomaten in den Mund. Oder ich nehme einen Schluck, dann kann ich wieder zurückgehen. Das kühle Getränk gibt mir eine sensorische Erfahrung. Auf den Tomaten kann ich herumkauen. Es ist eine körperliche Antwort auf die körperlichen Bedürfnisse und Empfindungen. Es funktioniert.
Es ist, durch die ganze Arbeit an mir selbst, weniger geworden. Aber das wichtigste ist: ich habe Frieden damit, und Frieden mit mir geschlossen. Ich habe keine inneren Machtkämpfe mehr, ich habe mit der Verurteilung aufgehört. Ich mache das jetzt „im Team mit mir selbst.“ Sollte es irgendwann im Leben aufhören: fein. Sollte es nicht aufhören, und ich weiter Kirschtomaten futtern, auch fein. Es gibt definitiv schlimmere Übersprungshandlungen und Gewohnheiten. Und ich finde mich damit recht okay. Ist die Arbeit an mir selbst zu Ende? Nein, natürlich nicht – und ich kann mir nicht so richtig vorstellen, dass sie das kurzfristig sein wird. Es wird sich also wieder ändern. Ich werde Dinge anders sehen und mit mir selbst wieder neue Arten des Umgangs lernen. Es wird, das gehört dazu, Rückschritte geben und an Stellen wieder sehr anstrengend mit mir selbst. Aber: Grundsätzlich habe ich damit Frieden. Das gehört zu mir, so bin ich. Ich habe mich dazu entschlossen, mich dafür nicht mehr schämen zu wollen und an einigen Stellen sehr offen damit umzugehen.
Und außerdem sind Kirschtomaten einfach gut.
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